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Renate Lehnort 

 

 

Sinfonie des Teufels

 

Familienturbulenzen

 

Band 7: 1945 – 1947

Historischer Roman

 

 

BLICK INS BUCH:

 

Annas Abschied von Otto war tränenreich gewesen, die Nacht davor hatte sie ihn so leidenschaftlich geliebt, als ginge er auf eine Reise ohne Wiederkehr. Selbst Ottos Versprechen, vor Weihnachten wieder auf Hogär zu sein, und seine Versicherung, sie und Maxi ungern alleine zu lassen, hatte ihren Tränenfluss nicht stoppen können.
Als er mit Eliot die schwach besetzte Douglas C-47am Flughafen Dübendorf bestieg, sah er immer noch Anna vor sich: ihr bleiches übernächtigtes Gesicht, ihre großen braunen Augen, die in Tränen schwammen und ihre blassrosa schmerzlich verzogenen Lippen. Im Krieg bin ich nicht einmal von Berlin und das unter Lebensgefahr in die Schweiz gereist, sagte er sich. Da war sie auch traurig, aber so emotional wie heute hat sie nicht reagiert. Je länger er über Annas Verhalten nachdachte, desto unverständlicher erschien es ihm. Auf die Idee, dass sie Angst hatte, ihn zu verlieren, weil er zu seiner Frau reiste, kam er nicht.
„Du bist ja heute so still“, sagte Eliot, nachdem das Flugzeug an Höhe gewonnen und die dunklen Wolken unter sich gelassen hatte.
„Ich bin nur müde, weil ich schlecht geschlafen habe“, redete er sich heraus.
Eliot zog mit einem Grinsen einen Flachmann aus der Brusttasche. „Nach einem Kaffee mit dem da“, sagte er, „wird es dir besser gehen.“ Er winkte den Steward heran, bestellte zwei Becher Kaffee und sagte gleich darauf zu Otto: „Erinnerst du dich noch an deinen ersten Flug? Da ging es dir auch nicht gut, weil du mit Deadly Brian zum Abschluss deiner Agentenausbildung um die Wette gesoffen hattest.“
„Daran erinnere ich mich mit Grauen“, gestand Otto und schmunzelte. „Mir war hundsmiserabel, was kein Wunder war. Deadly Brian war nicht nur hart bei der körperlichen Ausbildung, sondern vertrug auch Unmengen Whisky. Die Wette ging unentschieden aus, unsere Köpfe fielen fast gleichzeitig auf die Tischplatte.“
Eliot lachte. „Da warst du eine Ausnahme, die meisten hat er locker unter den Tisch gesoffen.“
„Heute würde ich das nicht mehr durchstehen, man wird älter.“
„Kein Grund, in Selbstmitleid zu baden, Otto. Dein ‚Man wird älter‘ hat jetzt geklungen, als hättest du gesagt, ‚Ich liege im Sterben‘. Du siehst gut zehn Jahre jünger aus, also was soll’s?“
„Darf ich dich in Berlin auf etwas einladen?“
Eliot stieß ihn mit dem Ellenbogen unsanft in die Seite. „Das habe ich ernst gemeint. Schau doch die anderen in deinem Alter an. Du hast keinen Grund zu jammern. Hätte ich so eine junge Frau wie du, käme mir das gar nicht in den Sinn. Du bist ein glück…“ Er schwieg, weil der Steward mit dem Kaffee kam. Kaum war er gegangen, schüttete er einen ordentlich Schuss Whisky in beide Becher.
„Tut gut“, sagte Otto nach dem ersten Schluck.
„Sag ich ja.“
„Weil du gerade das Thema Frau angesprochen hast“, sagte Otto. „Wie hat deine hübsche langjährige Schweizer Freundin darauf reagiert, dass du in die Staaten zurückkehrst?“
Eliot hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. „Mein Gott“, sagte er. „Sie hat gewusst, dass es eines Tages so sein wird. Wir haben wie zivilisierte Menschen voneinander Abschied genommen.“
„Ich hoffe, meine Frau nimmt auch in dieser Weise von mir Abschied“, sagte Otto und hob einen Mundwinkel. „Aber so wie ich sie kenne, wird dieser Abschied wie eine griechische Tragödie enden.“
„Du Armer“, spöttelte Eliot. „Hab ich dir übrigens schon erzählt, dass Truman im September unser Office of Strategic Services aufgelöst hat?“
Ottos Augen weiteten sich. „Warum denn das?“
„Dieser Musterschüler hat uns immer schon misstraut und jetzt meint er scheinbar, er würde alles viel besser und klüger organisieren.“ Eliot gab ein verächtliches Schnauben von sich. „Die Hauptgeschäftsstelle ist nach Wiesbaden verlegt worden.“
„Und wieso kehrst du dann in die Vereinigten Staaten zurück?“, fragte Otto überrascht.
„Weil ich erstens keine Lust habe, nach Wiesbaden zu ziehen, und zweitens keine Lust verspüre, dort deutsche Sowjetspione zu Doppelspionen umzufunktionieren. Und mir last but not least meine Nase sagt, dass man sich in Washington besinnen und wieder einen ordentlichen ausländischen Geheimdienst installieren wird. Und dann werde ich einer der ersten sein, der sich dazu meldet.“ Eliot begleitete den letzten Satz mit einem breiten Lächeln und einem listigen Blick.
„Verstehe. Allerdings sitzt du jetzt zwischen zwei Sesseln, oder irre ich?“
„Du irrst. Mich auszubooten ist nicht – dazu weiß ich zu viel. Ich fliege nach Washington, werde dort meine Kontakte spielen lassen, einige maßgebende Leute unter Druck setzen und, was ich schon sehr lange nicht mehr getan habe, Urlaub machen. Du ahnst nicht, wie sehr ich mich danach sehne aufzustehen, wann immer mir danach zumute ist, zu lesen und meinen Hobbys nachzugehen.“
„Hobbys?“, fragte Otto überrascht. „Ich dachte, du lebst nur für den Geheimdienst.“
„Er füllt einen Großteil meines Lebens aus, das stimmt“, sagte Eliot. „Aber es gibt auch noch etwas anderes. Meine große Leidenschaft ist das Gärtnern und das Schnitzen.“
Otto glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Eliot, der harte Agent ein Gärtner? In Arbeitshose mit Sonnenhut auf dem Kopf und einer Schaufel in der Hand? Unvorstellbar. Er räusperte sich, da er sonst seiner Erheiterung freien Lauf gelassen hätte.
Eliot schien ihn ihm zu lesen. „Du darfst ruhig darüber lachen“, sagte er amüsiert. „Jeder braucht etwas, was seiner Seele gut tut. Gärtnern und Schnitzen beruhigen und entspannen mich. Dabei habe ich Zeit, in Ruhe über wichtige Dinge nachzudenken. Ein Hobby habe ich dir noch verschwiegen, es entspannt mich ebenso, nur mit dem Nachdenken klappt es da nicht so recht.“
„Und das wäre?“
Eliot lachte herzlich. „Die Frauen, Otto, die Frauen.“
Otto stimmte in sein Lachen ein.
„Sag bloß, du hast es aufgegeben“, sagte Eliot immer noch lachend.
„Ich betreibe es nur noch mit einer Frau – stört mich aber nicht. Nicht mehr. Ich habe mich im Laufe meines Mannseins ordentlich ausgetobt und bin jetzt sehr zufrieden, nur meine Hand austrecken zu müssen, um eine leidenschaftliche Frau lieben zu dürfen.“
„Die Frau, die mich andere nicht vermissen lässt, habe ich noch nicht gefunden. Aber wer weiß, was die Zukunft bringt. Schnall dich an, wir landen gleich.“
Das Flugzeug holperte durch dicke dunkle Regenwolken und setzte schließlich zur Landung an. Während es über die Betonpiste jagte, sagte Eliot: „Wir werden abgeholt und fahren gemeinsam in das amerikanische Hauptquartier in Berlin-Dahlem. Es war nach dem Krieg beschädigt, ist aber in der Zwischenzeit wieder instand gesetzt worden. Berlin soll insgesamt einer Ruine gleichen.“
Otto stieß einen tiefen Seufzer aus. „Es war schon 1944 vieles kaputt. Jetzt steht wahrscheinlich kein Stein mehr auf dem anderen. Es tut mir heute noch weh, dass das Adlon in den letzten Kriegstagen ausgebrannt ist. Es war lange Zeit mein Zuhause.“
„Ja, das ist schade“, sagte Eliot. „Es soll sehr schön gewesen sein.“
„Es war nicht nur sehr schön, es war prachtvoll“, entgegnete Otto.
„Prachtvoll ist unser Hauptquartier wahrscheinlich nicht, aber da der amerikanische Stadtkommandant von Berlin zufrieden ist, wirst du es auch sein.“ Es klang ironisch. „Wir zwei werden uns erst wiedersehen, wenn du aus Wien zurückkommst. Ich jage in dieser Zeit von einer Besprechung zur anderen, vieles muss noch geklärt werden, bevor ich in die Staaten fliege – auch wenn es das OSS nicht mehr gibt. Dein Flug nach Wien findet übermorgen, also am Freitag um 09:30 statt, ein Wagen wird dich abholen und zum Flughafen bringen. Du hast also heute und morgen Zeit, dich in Berlin zu vergnügen. Wobei das Vergnügen in diesem Trümmerhaufen von einer Stadt wahrscheinlich ein zweifelhaftes sein wird.“
„Brauche ich, wenn ich in Berlin oder Wien herumspaziere, einen besonderen Ausweis?“, fragte Otto.
Eliot tippte sich auf die Stirn. „Das hätte ich beinahe vergessen“, sagte er, griff in die Brusttasche und hielt Otto ein Kuvert entgegen. „In diesem Kuvert findest du die Bestätigung, dass du von 1941 bis 1944 für uns geheimdienstlich tätig warst. Ich dachte, sie könnte hilfreich sein, falls dir in Berlin oder Wien einer der Besatzer Schwierigkeiten macht. Für deine Freunde in Wien ist sie eher nicht gedacht.“ Ein Schmunzeln umspielte seine Lippen. „Besser sie glauben, du warst dem Nationalsozialismus in Berlin zugeneigt. Wüssten sie, was du wirklich gemacht hast, wärst du in ihren Augen ein Landesverräter.“
„Mag sein“, sagte Otto gleichgültig und steckte das Kuvert ein. „Ich weiß, dass es nicht so war, und das genügt mir.“
„So soll es sein, es geht niemanden etwas an“, sagte Eliot. „Eine Identitätskarte für Wien habe ich auch für dich besorgen lassen, sie ist ebenfalls im Kuvert. Darin stehen deine Daten in Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch. Sie ist seit Oktober Pflicht, ohne sie kommst du nicht weiter. Du musst sie immer bei dir tragen.“
Das Flugzeug rollte aus und stand.
„Berlin, wir kommen“, sagte Eliot mit einem humorlosen Grinsen und griff nach seiner Tasche.
In Berlin herrschte Novemberwetter. Graue Wolken zogen tief am Himmel dahin, ein eiskalter Wind fegte die letzten Blätter von den Bäumen – es nieselte. Die Stadt bot ein erschreckendes Bild. Häuserruinen, wohin man sah, nur wenige Bauten hatten die heftigen Kämpfe und die Bombardements heil überstanden. Zerlumpte hohlwangige, zum Teil schon alte Männer, die Rucksäcke und Koffer trugen, und bepackte Frauen mit Kindern an der Hand wanderten scheinbar ziellos an den Ruinen vorbei. Manche zogen Leiterwagen beladen mit Matratzen und Kleinmöbel hinter sich nach.
„Schrecklich“, sagte Otto zu Eliot. „Die armen Leute. Das sind sicher Flüchtlinge, die aus den besetzten Gebieten ausgewiesen wurden, und jetzt wissen sie nicht wohin. Berlin erkennt man fast nicht wieder. Wenn ich daran denke, was das für eine schöne und lebendige Stadt war, könnte ich weinen. Schon 1944, als Anna und ich Berlin verließen, war schon vieles in Schutt und Asche, aber der jetzige Anblick übertrifft alles.“
„Hitler war leider nur auf diese Weise zu besiegen, das weißt du“, sagte Eliot. „Meinen Berichten zufolge hat man in den letzten Kriegstagen um jeden Meter gekämpft. Die Sowjets haben alles, wo sich Widerstand gezeigt oder wo man ihn auch nur vermutet hat, in Trümmer geschossen. Hätte sich die Wehrmacht gleich ergeben, wäre manches anders verlaufen. Aber so? Wehrmacht und Waffen-SS haben sich bis zuletzt gewehrt. Hitlerjungen, Kinder im Alter von 11 bis 14 Jahren, haben versucht, russische Panzer aufzuhalten.“
„Das wusste ich nicht“, sagte Otto leise. „Dafür gibt es keine Worte, es macht einen sprachlos.“
Eliot nickte. „Ja. Es muss schlichtweg das Inferno gewesen sein. Umso erstaunlicher ist es, wie schnell die Berliner zur Normalität übergegangen sind. Wasser- und Stromversorgung wurde im Blitztempo wieder hergestellt und der Nahverkehr funktioniert auch schon wieder recht gut. Die Deutschen sind wirklich ein fleißiges Volk.“
„Das sind sie, waren sie immer. Bei uns herrschte beim Militär in der Zeit der Monarchie immer ein gewisser Schlendrian, bei den Deutschen Gründlichkeit. Ein Grund, warum sie bei uns nicht beliebt waren.“
„Na ja, ihr seid halt doch dem Balkan näher“, lachte Eliot.
„Dem kann ich nicht widersprechen“, erwiderte Otto beiläufig, da er damit beschäftigt war, die Straße zu beobachten. Ein Trupp russischer Soldaten veranlasste ihn zu der Frage: „Wie viele Soldaten sind hier stationiert?“
„Wenn ich die Zahlen richtig im Kopf habe, sind es 6.500 von den Westmächten und 18.000 von den Rotarmisten.“
„Scheint so, dass die Sowjets das Zepter in der Hand haben.“
„Das versuchen sie. Immer wieder stellen sie den Vier-Mächte-Status in Frage, aber damit kommen sie nicht durch. Das Konstrukt, das aus der Konferenz von Jalta stammt, ist zwar kompliziert, aber es hält. Schon allein die Aufteilung in Besatzungszonen für Gesamtdeutschland war eine Herausforderung und die Verwaltung ist es auch. Das Gute, alle Beschlüsse der Siegermächte müssen einstimmig gefasst werden. Schukow legt sich, wie er das immer getan hat, bei jeder Gelegenheit quer. Ein unguter Bursche. Wobei ich nicht sagen will, dass die anderen wie Brüder handeln.“
Die dunkle Limousine fuhr direkt von der Clayallee auf das Hauptgebäude des ehemaligen Luftgaukommandos III zu, das die Amerikaner als Hauptquartier benutzten.
„Wir sind gleich da, da vorne ist es“, sagte Eliot und wies auf die schlichten Gebäude mit den zwei Wachhäusern im Vordergrund. „Ich stelle dich jetzt dem Stadtkommandanten vor und verabschiede mich danach. Man wird dir dein Zimmer zeigen und dir einen Ausweis geben, mit dem du dich auf dem Gelände und in Berlin frei bewegen kannst. Ich wünsche dir jetzt schon einen angenehmen Aufenthalt in Wien, wir sehen uns am 16. November wieder.“
Eine halbe Stunde später bezog Otto sein Quartier, das scheinbar für besondere Gäste gedacht war, denn es war wie eine Hotelsuite ausgestattet. Nicht luxuriös, aber zum Wohlfühlen. Er war so müde, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Früher hat mir das nichts ausgemacht nur drei Stunden zu schlafen, dachte er. Möglich, dass ich jünger aussehe, aber mein Körper weiß, wie alt ich bin. Nach einer Dusche ließ er sich ins Bett fallen und schlief innerhalb von Sekunden ein.

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