Sinfonie des Teufels
Große Gefühle
Historischer Roman
„Die Liebe ist eine suggestive Kraft und weiß, dass Liebe auch Liebe erweckt.“
Honoré de Balzac
1. KAPITEL
1918
Mit zwei Weinflaschen unter dem Arm marschierte Oberstleutnant Fürst Otto Johann von und zu Grothas in das Büro des Kommandanten, Capitano Visconte Emilio Foresta. Der
Comandante sah von seiner Zeitung auf. „Ah, sua altezza serenissima ist eingetroffen!“, sagte er mit einem Grinsen.
Otto verbeugte sich übertrieben tief. „Ganz zu Diensten sua nobiltà“, antwortete er.
Ein lautes Schnaufen, das Otto an ein Schwein beim Fressen erinnerte, zeigte ihm, dass der Kommandant die Huldigung zur Kenntnis nahm, ohne sie zu hinterfragen. Was für ein Idiot, dachte er.
Der Kommandant griff hinter sich, holte zwei Gläser aus dem Schrank und wartete, bis Otto eingeschenkt hatte. Mit einem gebrummten „salute“, leerte er sein Glas und hielt es Otto zum Nachschenken
hin. Danach rülpste er und fragte: „Warst du mit deiner Hure gestern zufrieden?“
Otto nickte. „Ich bin voll auf meine Kosten gekommen. Deine war aber auch nicht zu verachten, wir von höherer Geburt wissen eben, was Geschmack ist.“ Er nahm sein Glas, trank und überlegte, wie er
den Kommandanten, ohne ihn zu verärgern, dazu bringen könnte, die leichten Mädchen, denen er den Vorzug gab, nicht so brutal zu behandeln. Die gestrige junge hübsche Frau war grün und blau
geschlagen, als er sie wie einen Sack voll Abfall zur Tür hinausstieß.
„Du sagst es“, erwiderte Foresta mit einem Gesichtsausdruck, der einer satten Katze glich.
„Es geht mich zwar nichts an Emilio“, begann Otto mit sanfter untertäniger Stimme, „aber du solltest deine Mädchen nicht ganz so arg hernehmen.“
Forestas Blick erstarrte zu einem Eisklumpen. „Genau – es geht dich nichts an! Ich kann mit ihnen machen, was ich will und wenn mir danach ist, prügle ich sie tot.“
„Natürlich! Du kannst machen was du willst! Aber es wäre doch schade, ein schönes Stück Fleisch zu vernichten, mit dem man noch viel Vergnügen haben kann.“ Seine abfälligen, gemeinen Worte verfehlten
ihre Wirkung nicht.
Foresta grinste. „Jetzt begreife ich! Du stehst auf sie! “
„So ist es. Also lass sie bitte ganz!“
„Gut, weil du es bist … du bekommst sie das nächste Mal. Genieße sie gründlich, denn bald wirst du den Service hier nicht mehr lange in Anspruch nehmen können.“
„Wieso? Habe ich etwas versäumt? Ist der Krieg schon zu Ende?“
„Das hättest du wohl gerne … Ich habe vom Kommando in Padua den Auftrag bekommen, Gefangene auszutauschen – nächste Woche ist es soweit.“
Otto lehnte sich in seinem Sessel zurück und schlug ein Bein über das andere. „Ich für meinen Teil habe keine Lust, erneut an der Front zu kämpfen, Emilio. Ich würde lieber hier in deiner Obhut
bleiben, mein Freund. Unsere Kartenpartien, Mädchenabende und Trinkgelage würden mir abgehen, dir nicht?“
„Du bist mir einer!“ Foresta brach in Gelächter aus und klopfte sich auf die prallen Schenkel. „So einen wie dich habe ich noch nicht erlebt. Du kannst wieder gegen uns kämpfen und willst es
nicht!“
„Ich mache dir einen Vorschlag, Emilio: Vergiss mich und meine Kameraden beim Austausch – es soll dein Schaden nicht sein.“
Forestas Augen leuchteten auf. „Wie viel ist dir mein Vergessen wert?“
„10.000 Lira. Das ist mehr als dein Jahresgehalt. Und für diese Bezahlung erwarte ich mir zusätzlich, dass wir einmal in der Woche ohne Bewachung in den Ort gehen können. Mein Ehrenwort
wiederzukommen, wird dir wohl genügen. Bist du einverstanden?“
Foresta hielt ihm die Hand hin. „15.000 Lira und es gilt!“
Otto übersah sie. „Du ziehst mir ja die Hosen aus, Emilio“, sagte er mit wehleidiger Stimme. „12.000 – das ist mein letztes Wort.“
„13.000 und die Mädchen bekommst du gratis. Schlag ein!“
Otto nahm seine Hand, sie fühlte sich weich und schwitzig an. Er schluckte sein Ekelgefühl hinunter und sagte leichthin: „Weil du es bist und weil wir beide von edlem Geblüt sind.“ Zu seinem
Entsetzen umarmte ihn der Kommandant brüderlich. Die nächsten Stunden überstand er nur mit Hilfe des ausgezeichneten Rotweines. Beduselt kehrte er schließlich in sein Quartier zurück und ließ sich,
eingehüllt in eine Weinfahne, auf sein Bett fallen.
Edi zog die Nase kraus. „Musstest du schon wieder mit dem Saukerl trinken?“
„Was bleibt mir anderes übrig, wenn ich ihn bei Laune halten will“, knurrte Otto. „Das Trinken geht ja noch, aber ich weiß nicht, ob ich den allwöchentlichen Mädchenabend mit ihm noch länger
durchhalte. Dass er mir dabei zuschaut, ist noch das Wenigste, aber dass er neben mir die Mädchen schlägt, das ertrage ich kaum noch. Gestern hat er eine mit seiner Reitpeitsche derart malträtiert,
dass ich Schwierigkeiten hatte, meinen Mann zu stehen und nahe daran war, ihm Gleiches mit Gleichem zu vergelten.“
„Widerlich!“ sagte Edi und verzog das Gesicht. „Das ist echt widerlich … so ein Schwein! Im Krieg musste ich töten, aber diesen Kerl würde ich liebend gerne zum Teufel schicken.“
„Ich helfe dir dabei“, bemerkte Richard.
„Ihr sprecht mir aus der Seele, liebe Freunde, aber es geht nicht. Wir müssen auf unseren Vorteil achten.“ Otto richtete sich auf und schob sich den Polster in den Rücken. „Es gibt Neuigkeiten, wir
sollen nächste Woche ausgetauscht werden. Ich persönlich habe nicht die Absicht, wieder an die Front zu gehen. Wozu auch? Es ist klar ersichtlich, dass wir an der Grappa-Front nicht gewinnen können.
Ich habe den Kommandanten bestochen, wenn ihr wollt, vergisst er uns alle drei. Was sagt ihr dazu?“
„Die anderen Kameraden müssen kämpfen und wir sollen uns davor drücken?“, platzte Edi heraus. „Entschuldige Otto, aber diese Handlungsweise kann ich nicht nachvollziehen.“
„Du kannst gerne den Helden spielen und dich totschießen lassen, Eduard – es ist deine Sache. Ich mache bei den Fehlentscheidungen des Armeeoberkommandos nicht länger mit. Wenn du mich als Verräter
betrachtest, kann ich es nicht ändern, obwohl du es besser wissen müsstest. Was sagst du dazu, Richard?“
„Ich schließe mich deiner Meinung an, Otto. Lieber gefangen, als noch mehr Menschen ermorden. Danke Otto, dass du auch für uns die Unannehmlichkeiten mit dem Kommandanten auf dich nimmst und dafür
auch noch bezahlst.“
„Bitte versteh mich nicht falsch, Otto“, warf Edi ein. „Ich wollte dich nicht beleidigen und mich als Helden hervortun, aber ich bin Berufssoldat. Ich habe einen Eid geleistet. Ich kann hier nicht
herumsitzen, während die anderen ihren Kopf hinhalten. Ich habe mich dazu verpflichtet, mein Vaterland zu verteidigen, und das werde ich auch tun … Wenn ich dabei sterbe, dann ist es meine
Bestimmung.“
„Ich will dich zu nichts überreden, Eduard“, erwiderte Otto freundlich. „Schlaf einmal darüber und morgen sagst du mir Bescheid. Wie du dich entscheidest, ist, wie ich schon sagte, allein deine
Angelegenheit. Aber eines verlange ich von dir, und darauf wirst du mir dein Ehrenwort geben. Du wirst niemals, ich sagte niemals, über die Vorgänge hier sprechen.“ Sein Tonfall war der des
befehlsgewohnten Kommandanten.
„Das ist Ehrensache“, murmelte Edi. „So gut solltest du mich kennen.“
2. KAPITEL
Seit mehr als zwei Monaten wurde Kompaniekommandant Hauptmann Franz Razak im Militärspital in der Nähe von Padua nun schon behandelt. Er hatte Glück im Unglück gehabt,
es war ein glatter Durchschuss gewesen – das Stahlmantelgeschoss hatte keinen Knochen verletzt. Die Verletzung der Oberschenkelarterie war jedoch schwerwiegend gewesen und hätte ihn das Leben kosten
können, wenn nicht Otto bei der Erstversorgung so umsichtig gehandelt hätte. Ein weiterer Glücksfall waren die ausgezeichneten Chirurgen in Padua und das Ausbleiben einer Wundinfektion. Jetzt war er
zwar auf dem Wege der Besserung, von einer vollständigen Genesung aber noch weit entfernt. Die Tatsache, dass das Bein trotz der Therapien kaum beweglich war, erfüllte ihn mit Sorge. Die
ursprüngliche Ungeduld verwandelte sich mit der Zeit in demütige Duldsamkeit. Nicht zuletzt wegen seines Bettnachbarn Juliano Hofer, genannt Julio, Oberleutnant der Artillerie, dessen linker Arm
durch einen Granatsplitter zertrümmert wurde und schlussendlich amputiert werden musste. Er schien seine Behinderung zu negieren, war immer gut gelaunt und sprach den anderen Kameraden, unter anderem
auch Franz, Mut zu.
Julio war wie Franz auch Österreicher. Als uneheliches Kind einer österreichischen Mutter – die ihn allein aufzogen hatte – und eines italienischen Vaters in Mödling geboren. Auf Franz’ erstaunte
Frage, wieso ihm seine Mutter einen italienischen Vornamen gegeben habe, wo sie doch der Mann gleich nach der Geburt verlassen hatte, antwortete er mit einem Grinsen: „Weil ich seine schwarzen Haare,
seine dunklen Augen habe und sie ihn bis zu ihrem Tod vergöttert hat – sogar italienisch musste ich lernen. Ich habe nie ein böses Wort über ihn gehört.“
„Hast du ihn jemals kennengelernt?“ forschte Franz nach.
Julio nickte. „Das habe ich. Nach dem Tod meiner Mutter habe ich ihn gesucht, weil es mich interessiert hat, was er so Besonderes an sich hatte, dass sie ihn trotz allem nie böse war. Nach langem
Suchen habe ich ihn in Venedig entdeckt. Er hatte tatsächlich ein sehr einnehmendes Wesen, war charmant und gut aussehend – wir haben uns auf Anhieb verstanden. Ich habe ihm keine Vorwürfe gemacht
und er suchte keine Ausrede für seinen Weggang. Ich habe ihn und meine Cousine Cristina bis zu seinem Tod regelmäßig besucht – Blut ist eben dicker als Wasser. Aus diesem Grund war es auch nicht
leicht für mich, auf Italiener zu schießen. Aber was blieb mir übrig? Ich hatte keine Wahl.“
In den vielen Stunden des Beisammenseins kamen sie einander Stück für Stück näher. Offen sprachen sie über Politik – bemerkten mit Freude, dass ihre Gesinnung ident war – und vertrauten einander ihre
seelischen Verletzungen, die Ihnen der Krieg zugefügt hatte, an: Beide litten an Schlaflosigkeit, schliefen sie, plagten sie Albträume, in denen sie die Explosionen der Granaten hörten, zerfetzte,
sterbende Soldaten vor sich sahen und den Tod rochen. Die Angst um ihr Leben ließ sie schweißgebadet aufschreien. Immer wieder diskutierten sie über ihre charakterlichen Veränderungen, die der
Fronteinsatz herbeigeführt hatte und dessen Auswirkung auf die gesamte Männerwelt.
„Wahrscheinlich ist kein Mann nach dem Krieg mehr so, wie er vor dem Krieg war“, vermutete Franz. „Wir alle sind hart und unbarmherzig geworden, haben Taten begangen, die unaussprechlich sind –
manchmal ekelt es mich vor mir selbst.“
*****
Es dauerte weitere zwei Monate, bis Franz ohne Krücke gehen konnte. „Was sagst du nun, Julio?“, bemerkte er mit Stolz in der Stimme, als er zum ersten Mal nur auf
einem Stock gestützt in das Krankenzimmer humpelte.
Julio riss übertrieben die Augen auf. „Wow! Ich bin beeindruckt.“
„Das kannst du auch sein“, erwiderte Franz lächelnd. „Schließlich bist du nicht ganz unschuldig daran – wir haben auf den Gängen brav geübt. Das Bein ist zwar immer noch ein wenig steif und schmerzt
bei jeder Belastung, aber das wird auch noch werden. Der Arzt hat gemeint, einer vollständigen Genesung steht nichts mehr im Wege.“
„Das freut mich für dich“, antwortete Julio und meinte es so, wie er es sagte. „Gehen wir auf eine Zigarette hinaus? Ich möchte etwas mit dir besprechen.“
Vor der Tür wehte ihnen eine angenehme laue Luft entgegen. „Unglaublich, wie warm es hier schon im März ist“, bemerkte Julio.
Franz blieb stehen und atmete tief ein. „Der Frühling ist scheint’s im Anrollen. Wäre nicht die hohe Mauer und der Stacheldrahtverhau, ich würde glatt vergessen, dass ich ein Gefangener bin. Die
Anlage rund um das Krankenhaus ist wirklich schön.“
„Wir werden sie aber nicht mehr lange genießen können“, stellte Julio fest und setzte sich mit Rücksicht auf Franz langsam in Bewegung.
„Wieso?“
„Du weißt, ich verstehe mich mit dem Pfleger Alberto recht gut. Er ist menschlich schwer in Ordnung. Heute Morgen hat er mir erzählt, dass wir in spätestens drei Wochen in ein Lager in der Nähe von
Pestoia kommen sollen. Ich habe von diesem Lager schon gehört – nichts Gutes. Der Lagerkommandant soll ein ausgesprochener Sadist sein.“
„Du erzählst mir das doch nicht, damit ich mich fürchte?“
„Nein. Ich erzähle es dir, weil ich vorher zu fliehen gedenke – ich gehe in kein Lager.“
„Und wie willst du hier herauskommen? Es ist dir doch hoffentlich klar, dass du dein Leben riskierst. Wenn sie dich erwischen, knallen sie dich wie einen Straßenköter ab.“
„Sie werden mich nicht erwischen, Franz – mein Plan ist gut. Willst du mitkommen?“
„Zuerst dein Plan, dann meine Antwort. Wie willst du vorgehen?“
„Ich habe mir Folgendes ausgedacht.“ Julio senkte die Stimme und sah sich vorsichtig um, bevor er weitersprach. „Alberto fährt jeden Donnerstag mit der schmutzigen Spitalwäsche in die Stadt, um sie
in der Großwäscherei reinigen zu lassen. Es ist immer der gleiche Ablauf: Zuerst holt er die Säcke mit der Schmutzwäsche, dann wirft er sie auf die Ladefläche eines kleinen LKWs, danach geht er zum
Bewachungspersonal am Eingang, trägt die Uhrzeit ein und unterschreibt die Übernahme. Mein Plan: Er lenkt die Bewacher ab, wir kriechen auf die Ladefläche unter die Wäschesäcke. In Padua setzt er uns
dort ab, wo wir uns umziehen können – den Ort muss ich mit ihm erst festlegen – und nachher fahren wir mit dem Zug nach Venedig zu meiner Cousine. Dort können wir in Ruhe das Ende des Krieges
abwarten.“
Franz wiegte den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Alberto da mitmachen wird.“
„Doch. Er wird einwilligen, wenn ich ihn ordentlich dafür bezahle. Was sagst du zu meiner Idee?“
„Was ist mit neuen Papieren und Kleidung?“, antwortete Franz mit einer Gegenfrage und steuerte die nächste Bank an.
„Auch das werde ich mit Alberto noch abklären. Ich bin sicher, dass er beides besorgen kann, es wird nur seinen Preis erhöhen. “
Franz ließ sich schwerfällig auf der Bank nieder. „Wenn das alles mit Alberto klappt … kann ich mir vorstellen, dass ich dabei bin …“ Er pausierte, rauchte schweigend und fixierten den kleinen
Brunnen vor sich. Nach einigen Minuten sagte er: „Bist du dir wirklich zu hundert Prozent sicher, dass du ihm vertrauen kannst?“
Julio bewegte heftig den Kopf. „Das bin ich, Franz. Er weiß, dass ich Halbitaliener bin und die Kämpfe gehasst habe – obendrein braucht er Geld. Wie viel könntest du beitragen?“
„700 Lira. Ich habe noch einen Teil von meinem Sold ausbezahlt bekommen und zusätzlich eine Reserve.“ Mit einem Gefühl der Dankbarkeit dachte er an Otto.
„Ich kann 500 hergeben. Mit 1.000 wird er zufrieden sein. Morgen spreche ich mit ihm und gebe dir danach Bescheid. In Ordnung?“
„Gut. Aber sag ihm bitte nicht, wer der zweite Mann ist. Ich habe keine Lust, womöglich verraten zu werden und mein Leben aufs Spiel zu setzen – der Krieg und die Verletzung haben mir
gereicht.“
*****
„Sagen Sie Gottfried, warum ist es denn hier gar so kalt?“, fragte Maximilian und schob das Wirtschaftsbuch auf die Seite, das er soeben kontrolliert
hatte.
„Es tut mir leid, wenn Euer Erlaucht frieren. Wir mussten die Warmwasserzentralheizung drosseln, da es so gut wie keine Kohle mehr zu kaufen gibt.“
„Da lobe ich mir meinen Wald. Ist die Haushofmeisterin schon da? “
„Ja, sie wartet vor der Tür.“
„Dann herein mit ihr“, sagte Maximilian in munterem Ton.
Wenig später stand Johanna hocherhobenen Hauptes vor ihm. „Sie wünschen, Erlaucht?“, fragte sie und deutete einen Knicks an.
„Nehmen Sie Platz Johanna. Ich habe eine Frage zu den Haushaltsausgaben. Die Schwarzmarktpreise sind zwar hoch, trotzdem verstehe ich nicht, dass die Ausgaben für den Haushalt beinahe um das
Vierfache angestiegen sind. Wieso ist das so?“
„Ihre Durchlaucht möchte auch in diesen Zeiten auf nichts verzichten. Durchlaucht ordert die feinsten Speisen, obwohl, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Durchlaucht nur davon kostet. Diese
Waren haben jedoch horrende Preise. Ich habe Ihre Durchlaucht bereits darauf hingewiesen, dass die Ernährungssituation in Wien katastrophal ist, aber Ihre Durchlaucht will das einfach nicht zur
Kenntnis nehmen.“
Maximilians Gesicht versteinerte. „Ich dachte mir schon Ähnliches“, murmelte er. „Wie geht es Ihrer Durchlaucht mit der neuen Zofe? Das ist jetzt schon die sechste nach Theresa – oder irre
ich?“
„Die siebente, Erlaucht. Wir hoffen alle, dass diese nun bleibt. Es ist nicht leicht, die richtige Person für die Fürstin zu finden.“
Maximilian unterdrückte eine Unmutsäußerung. „Danke, Johanna“, sagte er stattdessen freundlich. „Sie können gehen. Bitten Sie Gottfried wieder herein.“ Gertrud wird immer eigenartiger und verrückter,
dachte er mit einem Anflug von Zorn. Ich verstehe nicht, dass Helga dauernd mit ihr zusammensteckt. Ihre Allüren sind ja kaum noch zu ertragen. Ich finde, man sollte ihr … Gottfrieds Kommen
unterbrach seine Überlegungen.
„Bitten Sie die Fürstin und Prinz Alexander zu mir.“
„Sehr wohl, Erlaucht. Darf ich eine Frage stellen?“
„Selbstverständlich. Was möchten Sie wissen?“
„Haben Erlaucht eine Nachricht von Seiner Durchlaucht erhalten? Wir alle machen uns große Sorgen um sein Wohlergehen.“
„Seine Durchlaucht ist in italienische Kriegsgefangenschaft geraten. Zum Glück ist er gesund. Er schreibt, es gehe ihm den Umständen entsprechend gut.“
Gottfried vergaß, dass es einem Kammerdiener nicht zustand, Gefühle zu zeigen. Er seufzte laut auf. „Schrecklich ist dieser Krieg. Hoffentlich behandelt man Seine Durchlaucht gut.“
Maximilians Augen ruhten mit einem teilnehmenden Verständnis auf ihm. „Die Gefangenschaft ist wahrscheinlich nicht gerade angenehm, aber dort kann er wenigstens nicht getötet werden – das ist das
Gute daran. Wir alle hoffen, dass der Krieg bald ein Ende haben wird.“
Gottfried verbeugte sich. „Ergebensten Dank für die Information, Euer Erlaucht“, sagte er und stakste steifbeinig hinaus.
Wenig später trat Gertrud mit ihrem Sohn ein, warf Maximilian einen hochmütigen Blick zu und setzte sich.
Als Maximilian ihren Blick auffing fiel es ihm schwer, die Gebote des guten Benehmens einzuhalten. Nach einem angedeuteten Handkuss, sah er auf und bemerkte die zahlreichen Falten auf Gesicht und
Hals, die in ihrem Alter nicht hätten sein dürfen, und ihre Haut, die aufgedunsen und fleckig war. Wo ist ihre Schönheit bloß geblieben?, fragte er sich, während seine Augen zu seinem Patenkind
wanderten. Xandi wirkte neben seiner Mutter wie das blühende Leben: Hochgewachsen, das honigblonde Haar sorgfältig gescheitelt, dunkelbraune Augen, die lebhaft in die Welt blickten, noch die runden
Wangen eines Kindes und doch – Maximilian verkniff sich ein Lächeln, da er den blonden Flaum über seiner Oberlippe sah, der bald eine Rasur benötigen würde – auf dem Weg ein Mann zu werden.
Alexander stand neben seiner Mutter und sah seinen Patenonkel fragend an.
Maximilian nahm gegenüber Gertrud Platz und bedeutete seinem Patenkind sich ebenfalls zu setzen.
„Du bist offenbar bei der Kontrolle der Bücher, Maxi“, sagte Gertrud und verzog ihr Lippen zu einem Lächeln eisiger Höflichkeit. „Ich hoffe doch, dass alles zu deiner Zufriedenheit ist.“
„Dazu später, Gertrud. Ich habe Nachricht von Otto bekommen, er …“
„Endlich!“, entschlüpfte es Alexander. „Wie geht es ihm? Ist er gesund?“
„Es geht ihm gut, er ist gesund. Aber leider oder Gott sei Dank, wie man es nimmt, ist er nach einem Gefecht in italienische Gefangenschaft geraten, deshalb haben wir solange auch nichts von ihm
gehört. Er ist in einem Lager südlich von Padua. Keine Angst“, fügte Maximilian hinzu, als er die Furcht in Alexanders Augen aufblitzen sah. „Er schreibt, dass er gut behandelt wird.“
„Gott sei Dank!“, rief Alexander aus. „Er wird jetzt wohl gefangen bleiben, bis wir den Krieg gewonnen haben, oder?“
Maximilian konnte ein nachsichtiges Lächeln nicht unterdrücken. „Ob wir ihn gewinnen, ist leider nicht so eine sichere Sache, Xandi. Aber egal, ob wie ihn gewinnen oder nicht, dein Vater wird
wahrscheinlich – außer es findet ein Gefangenenaustausch statt – bis Kriegsende dort bleiben.“ Mit dem Ausdruck der Missbilligung blickte er auf Gertrud, die dem Lakaien einen Wink gab, ihr Feuer für
eine Zigarette, die auf einer überdimensionalen Zigarettenspitze steckte, zu geben. Unbekümmert stieß sie danach den Rauch zur Decke und wippte dabei mit den Schuhspitzen ihrer Stiefeletten auf und
ab. Sie weiß ganz genau, dass ich rauchende Frauen hasse und was soll dieses Gezappel?
„Otto ist selbst schuld“, meldete sich Gertrud nach einer abermaligen Rauchwolke zu Wort. „Er hätte nicht in den Krieg ziehen müssen. Wenn er sich und der Welt beweisen muss, was er für ein Held ist,
dann …“
„Bei allem Respekt Mutter, das ist nicht wahr!“, fuhr Alexander sie an. „Papa hat sich zur Front gemeldet, weil er unserem Vaterland einen Dienst erweisen wollte.“
„Ganz recht, Xandi“, pflichtete ihm Maximilian bei. „Dein Vater ist ein ausgezeichneter Soldat und hat zu manchem Sieg beigetragen. Du kannst stolz auf ihn sein. Bist du so nett und lässt uns jetzt
alleine? Ich komme später noch zu dir.“
Ohne seine Mutter eines Blickes zu würdigen, ging Alexander hinaus. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, schnauzte Maximilian: „Wie kannst du es dir erlauben, vor deinem Sohn so abfällig
über Otto zu sprechen? Du hättest es wahrscheinlich gerne, wenn er tot wäre. Ich weiß nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, aber du hast, da bin ich mir ganz sicher, zu Ottos Entschluss sich an
die Front zu melden beigetragen.“
„Lieber Maxi“, flötete Gertrud zuckersüß. „Du hast keine Ahnung von unserer Ehe. Aber so gut solltest du Otto kennen, dass er nicht wegen einer Frau sein Leben riskiert.“
„Das mag schon so sein, dass er mehrere Gründe hatte. Aber ich bin mir sicher, einer der Gründe davon warst du. Warum sonst würde er dir nie schreiben?“
„Ich gebe zu, wir hatten eine kleine Auseinandersetzung – aber nicht der Rede wert! Du weißt doch, wie nachtragend und stur Otto sein kann. Es tut uns ganz gut, eine Weile getrennt zu sein. Ich führe
mein Leben und er seines.“
„Und gibst sein Geld mit vollen Händen dabei aus“, ergänzte Maximilian mit einem sarkastischen Unterton. „Wien steht vor einer Hungerkatastrophe und du frönst dem Luxus! Hast du kein Gewissen?“
Gertrud zuckte mit den Schultern. „Was kann ich dafür, dass Krieg ist … wir haben genug Geld, um am Schwarzmarkt einzukaufen.“
„Ich rede nicht davon, dass du genug Geld zur Verfügung hast, ich rede von Anständigkeit. Aber scheinbar kennst du den Begriff nicht. Damit du in Zukunft Bescheid weißt, ich werde dem einen Riegel
vorschieben. Du musst nicht Gänseleber aus Frankreich und Kaviar aus Russland essen. Champagner muss auch nicht jeden Tag sein. Trinkst du nicht ein wenig viel, meine Liebe?“
Gertruds Augen funkelten. „Was geht dich an, was und wie viel ich trinke? Die paar Gläschen, um sich das Leben angenehmer zu machen, sind nicht der Rede wert!“
„Es stimmt, es geht mich nichts an – trinke, bis du umfällst. Aber vielleicht wirfst du einmal einen Blick in den Spiegel. Man sieht es dir schon an … Ich erkenne einen Säufer, wenn er vor mir
steht.“
„Du bist so etwas von gemein! Schade, dass ich dir nicht mein Haus verbieten kann.“ Gertrud sprang wie von einer Tarantel gestochen auf, schrie „wie kannst du es wagen!“ und stürzte die Tür hinter
sich zuknallend aus dem Zimmer.
Maximilian sah ihr mit einem Kopfschütteln nach. Schön langsam begreife ich, warum Otto den Krieg vorgezogen hat – sie ist nicht normal. Gleich wenn ich nach Hause komme, werde ich mit Helga reden.
Ich will nicht, dass sie so oft mit ihr zusammensteckt. Nach diesem Entschluss klappte er das Wirtschaftsbuch zu und machte sich auf den Weg zu Alexander.
Als er das Studierzimmer betrat, stand Alexander mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor dem Fenster. Ohne sich umzudrehen, sagte er: „Onkel Maxi, ich muss mich für meine Mutter entschuldigen …
es geht ihr zurzeit nicht besonders gut.“
„Das habe ich bemerkt. Mach dir keine Sorgen, mein Junge. Wenn dein Vater wieder da ist, wird alles wieder ins Lot kommen.“ Maximilian setzte sich auf das mit blauer Seide bespannte Sofa. „Komm her
Xandi, setz dich zu mir. Was macht die Schule?“
„Alles in Ordnung, Onkel Maxi“, sagte er, während er Platz nahm. „Es mag für manche eigenartig klingen, aber ich lerne gerne. Wenn ich mit dem Gymnasium fertig bin, werde ich nach Amerika gehen und
Häuser bauen – ich möchte Architekt werden.“
„Warum ausgerechnet in Amerika und nicht hier?“
„Weil Amerika ein großes Land ist, wo es viel Platz gibt. Ich möchte eine Stadt bauen, die in die Landschaft passt und nicht die Natur zerstört. Ich liebe es, zu zeichnen und zu planen. Es muss
spannend sein, zuerst etwas zu entwickeln und dann zu sehen, wie es umgesetzt wird. Ich will dauerhafte, günstige und schöne Häuser mit klaren Linien bauen. Die Menschen sollen sich darin wohlfühlen
… aber nicht nur die Reichen. Jeder soll sich eine Wohnung in so einem Haus leisten können.“ Alexander ging zu seinem Schreibtisch, kramte in einer der Laden und hielt Maximilian kurz darauf ein
Zeichenblatt unter die Nase. „Hier habe ich ein Modell für eine Stadt gezeichnet.“
„Beeindruckend“, gab Maximilian von sich, nachdem er es genau betrachtet hatte. „Die hohen Häuser sehen wie Türme aus – vielleicht ist das ja wirklich die Zukunft. Ich bin echt verblüfft, Xandi … so
ein Talent!“
„Würde es dir etwas ausmachen, wenn du mich in Zukunft Alex nennen würdest? Xandi klingt kindisch. In der Schule nennen mich alle Alex.“
„Das lässt sich machen, mein Junge“, erwiderte Maximilian und unterdrückte ein Lächeln.