Renate Lehnort
Rache
Mit dem Mut der Verzweiflung
Vier Psychothriller in einem Band
BLICK INS BUCH:
Dunkle Macht
An der Gabelung verlangsamte er seine Schritte und schlug den Weg ein, der zurück zu seinem Haus führte. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht, den Rücken und aus den Achselhöhlen. Als er aus dem
Wald auf die Straße trat und ihm die Sonne mitten ins Gesicht knallte, begann es in seinem Kopf zu hämmern. Kopfschmerzen haben mir jetzt gerade noch gefehlt, Scheißtag!
Er betrat sein Haus, registrierte wie immer einen muffigen Geruch und rümpfte die Nase. „Ich gehe duschen“, sagte er laut in Richtung Küche, wo Lore mit dem Geschirr klapperte.
Er blieb unter der kalten Dusche stehen, bis er zitterte. Die Kopfschmerzen ließen nach.
Bringen wir die Sache also hinter uns, dachte er, als er die Treppen zum Wohnbereich hinunterging.
Der Frühstückstisch in der Küche war sonntäglich gedeckt. Am Sonntag verwendete Lore das ‚gute‘ Geschirr aus feinem Porzellan mit kleinen rosa Blümchen, unter der Woche das schlichte weiße. Klaus
setzte sich und griff nach der Zeitung. Im selben Moment kam Lore auf ihn zu, streckte ihre Hand aus, sagte: „Mit streng zurückgekämmten Haaren siehst du fürchterlich aus“ und war im Begriff, durch
seine Haare zu fahren.
Er erwischte sie gerade noch am Handgelenk, bevor sie ihre Absicht durchführen konnte. „Lass das!“, herrschte er sie an. „Ich bin kein kleiner Bub, den du bemuttern musst.“
Lore sah ihn überrascht an. „Entschuldige, ich habe es nur gut gemeint“, sagte sie und kniff die Lippen zusammen. „Willst du Eierspeise oder Spiegeleier?“
„Zwei Spiegeleier“, knurrte Klaus hinter der Zeitung.
„Warum bist du an diesem herrlichen Tag so schlecht gelaunt?“, fragte sie und schlug drei Eier in die Pfanne.
„Ich bin nicht schlecht gelaunt“, widersprach Klaus. „Aber ich werde es gleich sein, wenn du mich die Zeitung nicht in Ruhe lesen lässt.“
„Du hast ein Problem, das sehe ich dir an“, blieb Lore hartnäckig. „Was ist es?“
„Himmel Herrgott!“, fauchte Klaus und pfefferte die Zeitung auf den Tisch. „Warum lässt du mich nicht in Ruhe?“
Jetzt war Lore gekränkt. Eine Laune hat er heute wieder, schrecklich, dachte sie und knallte ihm ein Spiegelei nach dem anderen auf den Teller. Dann setzte sie sich und warf ihm einen prüfenden Blick
zu. Er sieht krank aus. Wahrscheinlich ist er überarbeitet, diese ewigen Nachtdienste und dazu die Ordination. Kein Wunder, wenn er gereizt ist. „Möchtest du Toast oder Vollkornbrot“, fragte sie
freundlich, hielt ihm den Brotkorb hin und beschloss, auf seine schlechte Laune nicht einzugehen.
Klaus griff nach dem Toast und führte ihn zum Mund. Er stoppte auf halbem Wege, da Lore sagte: „Soll ich ihn dir nicht mit Butter bestreichen? Er ist dann saftiger.“
„Ich weiß nicht, was heute in dich gefahren ist“, sagte Klaus und legte den Toast neben seinem Teller auf die Serviette. „Ich bin ein erwachsener Mann. Wenn ich Butter auf den Toast haben will, dann
streiche ich sie drauf.“
Lore stiegen die Tränen in die Augen. Sie senkte den Kopf, schnitt ein Stück von ihrem Spiegelei ab und zwang sich, es zu essen. Es schmeckte wie Pappe.
Klaus stopfte Toast und Spiegeleier hastig in sich hinein und langte nach einem Stück Vollkornbrot, obwohl er darauf keinen Appetit hatte. Automatisch schnitt sein Messer in die Butter, automatisch
verteilte er sie auf dem Brot, automatisch griff er nach dem Teller, auf dem normalerweise neben dem Schinken der Käse lag. Heute fehlte er. Er sah auf und fragte: „Wo ist der Käse?“
„Ich habe vergessen, einen zu kaufen“, sagte Lore gleichmütig.
Klaus setzte sich kerzengerade auf. „Lore, du hast nichts anderes zu tun, als den Haushalt für zwei Leute zu führen. Du weißt, ich esse gerne Käse zum Frühstück, wieso kannst du mir diesen kleinen,
diesen winzig kleinen Wunsch nicht erfüllen?“ Seine Stimme war von Wort zu Wort lauter geworden.
„Mein Gott Klaus! Ich habe ihn vergessen, nimmst du eben Schinken.“
„Ich will aber keinen Schinken!“, tobte Klaus. „Ich will Käse. Scheinbar hast du nur deine Vergnügungen mit deinen Freundinnen im Kopf!“
Mit Lores Beherrschung war es vorbei, einzelne Tränen kullerten über ihre Wangen. „Willst du einen Streit vom Zaun brechen? Dich bei mir wegen was weiß ich abreagieren? Nur zu. Tritt nur auf mir
herum, ich bin es ja gewohnt, Fußabstreifer zu sein.“
Klaus‘ Mundwinkel zeigten nach unten. Plötzlich hasste er sie. Hasste ihr Getue um seine Person, hasste ihr dunkel gefärbtes Haar, hasste ihre Stimme, die wehleidig und anklagend geklungen hatte,
hasste den demütigen Blick aus ihren blauen Augen. Und hasste sich selbst, weil er so empfand. Er konzentrierte sich mit gefurchter Stirn auf seinen Teller und legte penibel drei Tomatenscheiben auf
sein Brot. Dann hob er den Kopf und sagte in akzentuiertem Tonfall: „So, ich trete also andauernd auf dir herum, ja? Was meinst du mit andauernd? Andauernd kann es zwischen uns gar nicht geben, da
ich die meiste Zeit arbeite und nicht zu Hause bin. Ich habe wie ein Ackergaul gearbeitet, um dir dieses Haus zu ermöglichen, und ich tue es immer noch – nicht für mich, sondern für dich!“ Er
unterstrich das ‚Für dich‘, indem er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Lore deutete.
Lore warf ihm einen Blick zu, der ausdrückte: ‚Warum verletzt du mich, warum tust du mir weh? Ich habe dir nichts getan.‘
Klaus bemerkte, wie ihre Schultern nach unten sackten, als würde jemand ein schweres Gewicht auf sie legen, und sah die Tränen in ihren Augen. Seine Wut verpuffte so schnell, wie sie gekommen war, er
fühlte sich klein und erbärmlich. Übergangslos sagte er: „Ich werde mich von dir trennen.“ Dann fingerte er eine Zigarette aus der Packung, zündete sie an und sog den Rauch tief in die Lunge.
Lore sah ihn entgeistert an. „Wie bitte?“
„Ich will die Scheidung.“
„Du willst dich von mir trennen, weil ich keinen Käse gekauft habe?“, fragte sie ungläubig.
„Natürlich nicht. Ich will die Scheidung, weil wir uns nichts mehr zu sagen haben … wir haben uns auseinandergelebt.“
Lore versteifte sich und starrte ihn verdutzt an. Sie versuchte, etwas zu sagen, brachte kein Wort heraus und kämpfte gegen ein lähmendes Entsetzen an. Gleich wache ich aus diesem Albtraum auf,
dachte sie. Wir verstehen uns gut, haben uns immer gut verstanden. Es gibt keinen Grund für eine Scheidung. „Niemals, ich werde mich niemals von dir trennen“, flüsterte sie schließlich.
„Lore, wir führen schon lange keine wirkliche Ehe mehr“, sagte Klaus in einem Ton, als würde er zu einem Kind sprechen. „Wir wohnen zusammen, essen zusammen – das ist alles. Jeder lebt sein Leben,
wir haben nichts mehr, was uns verbindet. Ich will so nicht weitermachen.“
„Es steckt ein Weib dahinter, habe ich recht?“
Klaus schwieg.
Lore umklammerte die Tischkante so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten, fixierte Klaus und wiederholte ihre Frage: „Habe ich recht?“
Klaus hüllte sich in Schweigen und dachte verzweifelt darüber nach, wie er ihr schonend die Existenz von Sue beibringen sollte.
„Antworte mir gefälligst“, schrie Lore jetzt außer sich.
„Schrei nicht!“, sagte Klaus und nahm die Flucht nach vorn: Er knallte beide Fäuste so hart auf den Tisch, dass das Geschirr klirrte. „Benimm dich wie ein erwachsener Mensch und lass uns in Ruhe
darüber reden. Ich lasse dir das Haus, das Auto und überweise dir jeden Monat einen ordentlichen Betrag. Wir können Freunde bleiben.“
„Komm mir nicht mit diesem Quatsch!“, rief Lore in einem Ton, der Klaus an das Kreischen eines Papageis erinnerte. „Ich frage dich nochmals: Steckt eine andere Frau dahinter?“
„Es gibt eine andere Frau, aber sie allein ist nicht der Grund“, antwortete Klaus mit belegter Stimme.
„Ich dachte, du liebst mich“, sagte Lore erstickt und schien plötzlich kleiner zu werden. „Ich habe dir alles gegeben … was gibt sie dir, was ich dir nicht geben kann?“
Klaus sah und hörte, wie sie litt, und schämte sich, ihr das antun zu müssen. „Es tut mir leid, Lore“, stammelte er und fasste nach ihrem Arm. Lore zog ihn zurück, als hätte sie eine Schlange
gebissen.
„Was tut dir leid, dass du mich betrogen und belogen hast?“, fragte sie mit bebender Stimme und verbarg ihre zitternden Hände unter dem Tisch auf ihrem Schoß.
„Es tut mir leid, dass ich dir Schmerz zufügen muss“, sagte Klaus leise.
Sie ist sicher jünger und besser im Bett, dachte Lore und konnte es nicht lassen, ihre innere Qual noch zu erhöhen, indem sie diesen Gedanken laut aussprach. Klaus gab keine Antwort. „Ich war nie
feurige Geliebte“, sagte sie dann mehr zu sich selbst und fügte mit der Absicht, auch ihm wehzutun, hinzu: „Du bist aber auch kein feuriger Geliebter.“
„Wie sollte ein Mann Feuer entfachen, wenn seine Frau es lediglich geschehen lässt?“
Lore fuhr zusammen, als hätte sie jemand mit einer Nadel in den Nacken gestochen. Ihre bisher mühsam aufrecht erhaltene Fassade brach schlagartig zusammen. Sie fing hemmungslos zu weinen an und
rannte aus der Küche. Klaus hinterher. „Lore“, rief er. „Es ist nicht so, dass du mir nicht wichtig bist. Ich habe dich gern, gern wie einen Freund, den ich nicht missen möchte.“
Seine gut gemeinten Worte bewirkten das Gegenteil. Lore raste über die Treppen hinauf, warf sich heulend im Schlafzimmer auf die Knie, trommelte mit den Fäusten auf den Boden und wollte nur noch
eines: sterben, jetzt und sofort.
Klaus trat hinter sie und berührte zaghaft ihre Schulter. Wütend stieß sie seine Hand weg und schrie: „Geh weg!“
Klaus bewegte sich keinen Millimeter. Er ging erst, als Lore abermals schrie: „So geh doch endlich!“