Renate Lehnort
Blutiger Umbruch
Ereignisse werfen ihre Schatten voraus
Band 1: 1789-1793
Familiensaga
BLICK INS BUCH:
1789
Im Februar bezogen Jean-Paul und Jeanette ihr Heim in Paris. Das Haus, das ihnen Jean-Pauls Vater zur Hochzeit geschenkt hatte, war kein prachtvolles Palais, wie es der Adel bevorzugte. Es war ein geräumiges schönes Haus aus weißem Naturstein inmitten eines großen Gartens auf der rechten Seite der Seine, außerhalb vom Trubel der Stadt. Jean-Pauls Vater kannte seinen Sohn gut genug, um zu wissen, dass er ein prächtiges Palais abgelehnt hätte.
Wie es die Höflichkeit gebot, besuchte Jean-Paul, nachdem sie sich eingerichtet hatten, seinen Vater, um ihm mitzuteilen, dass Jeanette und er vorderhand in Paris bleiben wollten. Von einer
herzlichen Begrüßung war keine Rede, sie standen sich wie zwei Fremde gegenüber.
„Höchst an der Zeit, dass du vernünftig wirst und die Stadt dem langweiligen Landleben vorziehst“, sagte Gilbert statt einer Begrüßung.
„Ich bin nicht nach Paris übersiedelt, weil es mir in Montmirail langweilig ist, sondern wegen der Einberufung der Generalstände, wo ich, wie Sie wissen, die Bürger von Montmirail vertrete“, sagte
Jean-Paul mit unbewegter Miene.
Gilbert sah ihn unter gefurchten Brauen mit einem stechenden Blick an. „Sollte dir unsere Familie nur das Geringste bedeuten, dann legst du das Mandat für den Dritten Stand zurück.“
„Bei allem Respekt, Herr Vater, das werde ich nicht tun“, blieb Jean-Paul hart.
Gilberts Blick wurde noch um eine Spur finsterer. „Ist dir klar, dass du deine Familie damit blamierst? Ich bin Abgeordneter des Adels und du vertrittst die Bauerntölpel, ich sehe jetzt schon die
hämischen Blicke, die mich verfolgen werden. Du warst immer schon ein Außenseiter, warum kannst du dich nicht unseren Gepflogenheiten anpassen? Am Hof werde ich darauf angesprochen, warum du dich nie
zeigst, und ich muss immer neue Ausreden erfinden. Dabei würdest du mit deiner hübschen Gattin mit offenen Armen aufgenommen werden.“
„Sie wissen genau, dass ich dem Leben am Hof von Versailles nichts abgewinnen kann, einem Leben voll Prunk, während andere hungern. Ein albernes Zeremoniell, wo die Höflinge ständig darum buhlen, dem
König zu gefallen, einem Herrscher, der nicht die mindeste Verantwortung für sein Volk übernimmt. Eine Königin, die sich nur um sich selbst kümmert und wahnwitzige Beträge für ihre Prunk- und
Spielsucht ausgibt. Dazu eine verkommene Moral, wo jeder hinter jeder Säule seinen Gelüsten nachgibt – das ist nichts für mich.“
„Du übertreibst, so arg ist es nicht.“
„Mag sein, ich jedenfalls kann all dem nichts abgewinnen und sehe nicht ein, warum ich meine Zeit mit etwas vertun soll, was ich nicht will“, sagte Jean-Paul scharf und kehrte dann zum ursprünglichen
Thema zurück. „Maître Blanchard, mein Schwiegervater, vertritt ebenso den Dritten Stand und Marquis de Mirabeau ebenfalls.“
„Dein Schwiegervater ist nicht adelig, und was ich von ihm, dem Rechtsverdreher, halte, weißt du und …“
„Ich bin auch ein Rechtsverdreher“, warf Jean-Paul mit einem leichten Lächeln ein.
Gilbert beachtete seinen Einwurf nicht und fuhr fort. „… was Mirabeau betrifft, der alte Mirabeau war schon ein Tunichtgut, sein Sohn ist um nichts besser. Sein eigener Vater wusste sich nicht anders
zu helfen, als einen Lettre de cachet beim König zu erbitten, damit man Gabriel arretiert, um die Familie vor Schande zu bewahren – es ging um hohe Schulden. Im Hafturlaub verleitete er eine Frau zum
Ehebruch, flüchtete mit ihr in die Schweiz und wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Sein Todesurteil wurde später annulliert, wie ihm das gelungen ist, weiß ich nicht, danach hielt er sich im
Ausland auf. Kurz, er ist klug und schlau wie ein Fuchs, führt einen schlechten Lebenswandel und ist mir so zuwider wie eine Fleischfliege beim Essen.“
„Sein Lebenswandel geht mich nichts an, er ist seine Sache. Für mich ist er ein Mann, der sich für den Dritten Stand einsetzt, alles andere ist nicht von Belang.“
„Du bist stur wie ein störrischer Esel“, stellte Gilbert mit einem Seufzer fest. „Ich habe kein Glück mit meinen Kindern. Du spielst dich als Retter der Armen auf, Pierre hat eine Weibergeschichte
nach der anderen, die mich Geld kosten, um die Gemüter zu beruhigen, und Gabrielle will sich von de Barville trennen.“
„Ach! Warum denn?“
„Warum, das weiß der Teufel, sie hat weder deiner Mutter noch mir einen Grund genannt. Alles, was sie sagt, ist, dass sie in dieser Ehe unglücklich ist. Mein Gott, welcher Mann oder welche Frau sind
in der Ehe schon immer glücklich! Glücklich, was heißt denn das!“ Die Frage war offenbar rhetorisch gemeint, denn er fuhr gleich fort. „Wie ich de Barville kenne, wird er ihrem Wunsch nicht
zustimmen, und wenn er es doch tut, dann wird er Colette Gabrielle entziehen – er liebt die Kleine abgöttisch.“
„Gabrielle ist erst achtzehn Jahre, verständlich, dass sie mit dem Alten unglücklich ist“, bemerkte Jean-Paul und fragte im selben Atemzug: „Wie geht es Maman?“
Gilberts Miene wurde weich. „Das frage ich mich auch des Öfteren“, sagte er in einem niedergeschlagenen Ton. „Ich sehe sie kaum, sie ist in Marie-Antoinette vernarrt und liegt ihr zu Füßen. Scheinbar
gefällt ihr, dass die Königin Regeln in ihrem Rückzugsort Petit Trianon erlässt, obwohl das nur das Recht des Königs ist. Marie-Antoinette spaltet den Hof, die Gerüchteküche brodelt. Man tuschelt,
der König sei impotent und Maria-Antoinette hat nicht nur männliche Liebhaber, sondern auch weibliche. Deine Mutter bereitet mir Sorgen, sie sollte sich nicht so an die Königin hängen. Das Volk hasst
Marie-Antoinette und man weiß nicht, in welchen Sog sie einmal kommt, und dann wäre deine Mutter mittendrin.“
Jean-Paul war angenehm überrascht, noch nie hatte sein Vater seine Sorgen bei ihm abgeladen. Es stand ihm nicht zu, sich über seine Mutter zu äußern, der er alles zutraute, was Gott verboten hat,
daher hütete er sich, die Äußerungen seines Vaters zu kommentieren.
„Ich kann dich also nicht überreden, deine Mission beim Dritten Stand aufzugeben?“, sagte Gilbert schließlich nach einem längeren gegenseitigen Schweigen.
„Nein.“
Gilberts Brust hob und senkte sich. „Ist dir klar, dass ihr nichts erreichen werdet?“
„Es ist noch nicht aller Tage Abend, Herr Vater“, erwiderte Jean-Paul mit einem schmallippigen Lächeln und verabschiedete sich kurz darauf mit einer höflichen Verbeugung, die Gilbert mit einem Wedeln
der Hand und der Bemerkung „Verbieg dir nicht den Rücken, wir sehen uns bei den Versammlungen, wenn auch nur von Weitem“.
„Wie war das Gespräch mit deinem Vater?“, frage Jeanette, nachdem Jean-Paul nach Hause zurückgekehrt war.
„Wir haben nicht gestritten, wenn du das meinst“, erwiderte Jean-Paul. „Es war ein ruhiges Gespräch, in dem er mich bat, meine Mission, wie er meine Teilnahme als Abgeordneter beim Dritten Stand
bezeichnet, fallen zu lassen. Das habe ich abgelehnt, es blieb ihm nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren. Er sprach über seine Sorgen mit dem Rest der Familie, das hat er noch nie getan, ich
war überrascht.