Renate Lehnort
… UND RAUS BIST DU!
Roman
WIDMUNG
Ich widme dieses Buch dem Mann, der mir das Vertrauen geschenkt hat,
mir seine Geschichte zu erzählen und mir sämtliche rechtlichen Unterlagen für
diesen Roman zur Verfügung gestellt hat.
Wien 1976
Würdevoll, als wäre ihm seine Gewichtigkeit bei jeder Bewegung bewusst, schritt der distinguierte Herr im mittleren Alter über die Prunkstiege des Palais Prinz Eugen in der Himmelpfortgasse 8, dem Sitz des österreichischen Finanzministeriums. Er wirkte durch seine Art älter, als er war. Die schwarze elegante Aktentasche, die er in der Hand trug, baumelte bei jedem seiner Schritte mit, als wüsste sie genau, dass sie sich ihrem Träger anzupassen hat. Wie üblich betrat er um Punkt acht Uhr seine Amtsräume und brummte einen Gruß in Richtung seiner Referenten. Bei seiner langgedienten Sekretärin, Frau Fachinspektorin Erna Kohl, einer bebrillten hageren Frau mit strenger Frisur, stoppte er und tauschte einige Höflichkeitsfloskeln aus. Dabei bemerkte er, dass ihr Namensschild schief stand – er rückte es zurecht. Als er die Tür zu seinem Refugium öffnete, unterdrückte er einen Seufzer.
An seinem Schreibtisch angekommen, stellte er die Aktentasche ab, setzte sich auf seinen ergonomischen Bürosessel und rollte so lange hin und her, bis er eine parallele Stellung zur Tischplatte gefunden hatte. Danach strich er über sein schütteres braunes Haar, rückte seine Krawatte zurecht und war bereit – bereit für den Tag im Amt.
Genau in dem Augenblick, als er den ersten Akt vom Stapel nehmen wollte, klopfte es. Ah, der Kaffee, dachte er und legte seine weiblich wirkende Hand mit dem Siegelring wieder auf die Schreibtischplatte. Er hatte sich nicht getäuscht, ein Bürodiener trat nach seiner Aufforderung ein und stellte, wie jeden Morgen, ein kleines silbernes Tablett mit einer Tasse dampfenden Kaffee und dem obligaten mürben Kipferl vor ihn hin. Das Aroma des Kaffees schwebte gleichsam vor seiner Nase, das Kipferl war so, wie er es gerne hatte – nicht zu dunkel gebacken. Der Pegel seiner Laune stieg von Schluck zu Schluck, von Biss zu Biss. Als der letzte Rest des Kipferls in seinem Mund verschwunden war, entfernte er einige Krümel von seinem Sakko und griff zur Tageszeitung. In derselben Sekunde, als er die Kaffeetasse leerte, klappte er die Zeitung zusammen. Danach gab er einen undefinierbaren Ton von sich und vertiefte sich in den zu bearbeitenden Akt.
Zwanzig Minuten später ließ ihn das Klingeln des Telefons hochfahren. „Ministerialrat Huber“, schnauzte er in den Hörer und murmelte kurz darauf: „Bist du meschugge, mich hier im Amt wegen so einer Sache anzurufen? Wir haben doch vereinbart, dass … Gut, wenn es so dringend ist, dann treffen wir uns heute um fünf Uhr an unserem gewohnten Platz … Um Himmels willen, beruhig dich … Nicht jetzt, sagte ich! … Nein, nur wir zwei. Also dann, Servus.“ Er legte bedachtsam den Hörer auf und starrte minutenlang auf das goldumrandete Landschaftsbild an der gegenüberliegenden Wand. Schließlich griff er erneut nach dem Hörer und wählte. Wenig später meldete er sich, straffte dabei seinen Rücken und verneigte sich mehrmals im Sitzen, während er mit seinem Gesprächspartner sprach. Als er auflegte, standen kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn. „Das hat uns gerade noch gefehlt“, brummte er, nahm ein blütenweißes Taschentuch aus seiner Sakkotasche und betupfte damit sein Gesicht. Seine gute Laune war Vergangenheit.
Langsam, fast quälend, krochen die Zeiger der Uhr dahin. Wären nicht einige Sitzungen und sein gewohnter mittäglicher Besuch im Café Frauenhuber gewesen, die Zeit bis Dienstschluss wäre ihm endlos erschienen. Nicht, dass ihn die Nachricht so beunruhigte, nein, sie brachte nur seinen Tagesablauf durcheinander – das irritierte ihn. Punkt 16:30 Uhr verließ er sein Büro und machte sich auf den Weg in den Stadtpark. Diesmal schwenkte die Aktentasche nicht sachte hin und her, sondern sie schlug geradezu ärgerlich aus. Ohne auf Menschen oder Geschäfte zu achten, strebte er seinem Ziel zu: Einer Sitzbank gleich rechts hinter dem Johann-Strauß-Denkmal.
Vor dem vergoldeten Bronzestandbild des Wiener Walzerkönigs, der mit der Geige in der Hand von seinem mit Blättern und schwebenden Paaren reliefierten Marmorbogen in die Ferne sah, stoppte er. Es kam ihm so vor, als würde er die Welt wegen ihres fehlenden musikalischen Talents spöttisch betrachten. Mit einem Schulterzucken ging er weiter und setzte sich hinter dem Denkmal auf eine Bank, die von großen Bäumen beschattet war.
Obwohl sich der September dem Ende zuneigte, war es ungewöhnlich warm. Das abnorme Wetter verursachte ihm Kopfschmerzen und drückte auf seine Stimmung, die sowieso nicht die beste war. Er stellte die Aktentasche neben sich ab und lockerte diskret seine Krawatte, die sich wie ein Strick um seinen Hals anfühlte. Bei dieser Gelegenheit blickte er auf seine Uhr und stellte fest, dass er gut zehn Minuten zu früh dran war. Umständlich öffnete er seine Tasche und entnahm ihr ein bereits abgenutztes Taschenbüchlein: „Eine blassblaue Frauenschrift“ von Franz Werfel – seine Lieblingslektüre. Er konnte sie nicht oft genug lesen, immer wieder fand er Passagen, die ihn erheiterten oder zum Denken anregten. Obendrein faszinierte ihn die Sprache des Verfassers und seine Treffsicherheit – er sog die Worte geradezu in sich auf. Seine besondere Bewunderung galt der Hauptfigur der Erzählung, dem Sektionschef Leonidas, mit dem er sich eins fühlte – sie waren ein Wesen. Es störte ihn nicht im Geringsten, dass Werfel Leonidas als einen eitlen Opportunisten darstellte. Nein, Selbstliebe, zweckmäßiges Anpassen an die jeweilige Situation und seine Vorteile mit List und Tücke zu nutzen waren in seinen Augen beileibe nicht verachtenswert. Wie sonst sollte man im Leben vorwärtskommen? Eine weitere Gemeinsamkeit sah er darin, dass Leonidas seinem obersten Vorgesetzten, dem Minister, keine besondere Hochachtung entgegenbrachte. Auch er sah die Wechselspiele der politischen Kräfte gelassen, saß er doch im Rahmen seiner Tätigkeit und seines gut aufgebauten Netzwerkes fest im Sattel des Geschehens. Er vertiefte sich in seine Lieblingsstelle: „Leonidas aber und seinesgleichen hatten das Regieren gelernt wie Musiker den Kontrapunkt lernen in jahrelang unablässiger Übung.“ Exzellenter Vergleich, dachte er, man könnte es nicht besser ausdrücken. Mit einem Schmunzeln las er weiter: „Die Minister spielten nur die Rolle politischer Hampelmänner, möchten sie dem Zeitstil gemäß auch noch so diktatorisch einhertreten. Sie aber, die Ressortchefs, warfen ihren unbeweglichen Schatten über diese Tyrannen.“ Er hörte ein Geräusch, sah auf, klappte mit innerem Bedauern das Büchlein zu und verstaute es wieder.
„Servus, Ministerialrat“, sagte der kleine Mann mit dem Mondgesicht und setzte sich neben ihn. „Bin ich zu spät?“
„Servus. Nein, ich war zu früh.“ Er schenkte Hofrat Friedrich Müller vom Zollamt einen schwachen Händedruck.
„Entschuldige, dass ich dich im Amt angerufen habe, aber ich wusste wirklich nicht …“
„Schon gut“, unterbrach der Ministerialrat den Hofrat, der ihn wie stets an einen Gartenzwerg mit einem Mondgesicht erinnerte. „Was ist also so dringend?“
„Es ging eine Anzeige bei der Wirtschaftspolizei ein.“
„Das ist mir bekannt, ich bin informiert.“
„Dann weißt du, dass nun der Apparat ins Rollen kommt und wir nichts dagegen tun können“, sagte das Mondgesicht. Seine Stimme klang besorg.
„Ihr vom Zollamt braucht euch keine Sorgen zu machen und ich mit meinen Leuten auch nicht. Wenn einer Ungelegenheiten hat, dann sind es der Stein und der Hofrat vom Münzamt.“ Der Ministerialrat pausierte und betrachtete seine blankpolierten Schuhspitzen. Dann hob er den Kopf und bemerkte mit einem bedauernden Unterton: „Blöd nur, dass somit der Geldsegen für uns alle vorbei ist.“
Das Mondgesicht begnügte sich mit einem Nicken.
„Na ja, wir können uns nicht beschweren“, fuhr der Ministerialrat fort. „Wir haben über fünfzehn Jahre schön abkassiert.“ Er tat, als würde ihn die Sache nicht berühren, in Wirklichkeit war er wütend diese regelmäßigen Zuwendungen zu verlieren, die sein monatliches Gehalt unwichtig erschienen ließen.
„Ihr werdet aber den Stein und den Hofrat nach so vielen Jahren der guten Zusammenarbeit nicht einfach hängen lassen? Das wäre nicht rechtens.“
„Rechtens? Machst du Witze? Nimm deinen Verstand zusammen, es bleibt uns nichts anderes übrig. Ich möchte nicht, dass wir, du weißt schon wer alle, Schwierigkeiten bekommen. Nachher wird man sehen … meine Beziehungen zum Justizministerium sind nach wie vor ausgezeichnet … was wir jetzt bräuchten, wäre ein Sündenbock.“
Es folgte eine lange Pause.
Schließlich unterbrach das Mondgesicht das Schweigen zwischen ihnen. „Der Stein hat seit einem Jahr einen jungen Sekretär und er hat mir erzählt, dass der junge Mann intelligent, aber vertrauensselig wie ein Kind ist – vielleicht wäre der geeignet.“
„Möglich … Ich werde einen meiner Vertrauten zum Stein schicken, um das zu hinterfragen.“ Er drehte sich zu seinem Gesprächspartner und sah ihn frontal an. „Wieso hat der Bankmensch, der Mendel, den Stein bei der Wirtschafspolizei überhaupt angezeigt? Das möchte ich jetzt wissen. Sie arbeiten doch seit den sechziger Jahren zusammen und waren immer die besten Freunde.“
„Sie haben sich wegen ein paar Goldmünzen gestritten – wegen ein paar lumpiger Goldmünzen! Das muss man sich vorstellen!“ Das Mondgesicht griff sich an den Kopf und zog eine Grimasse. „Der Mendel hat angeblich behauptet, dass ihn der Stein betrogen habe – ein Wort gab das andere, schließlich ist der Stein, nachdem er nicht gerade höflich zu ihm war, wütend abgedampft. Der Mendel war ebenso wütend, wollte ihm eins auswischen und hat ihn angezeigt.“
„Das darf ja wohl nicht wahr sein!“ Zwei Zornesfalten bildeten sich über seiner nicht gerade wohlgeformten Nase. „Die beiden gehören schon allein wegen Blödheit eingekastelt. Aber nun ist die Sache im Rollen – da hilft kein Jammern. Von unserer Seite her werden wir betonen, dass die Wirtschaftspolizei von uns auf Grund von Verdachtsmomenten informiert wurde und nicht umgekehrt.“ Er sprach so akzentuiert, als müsse er die Vorgehensweise einem Schwachkopf klar machen.
Die Mundwinkel des Mondgesichtes verzogen sich nach unten.
Plötzlich wurde die rote Zipfelhaube eines Zwerges für den Ministerialrat so real auf dem Haupt des Mondgesichtes, dass er um ein Haar laut aufgelacht hätte – er begnügte sich mit einem Lächeln.
„Und was machen wir dann?“, fragte das Mondgesicht nach.
Das Lächeln des Ministerialrats verschwand so schnell, wie es gekommen war. „Was heißt wir? Du und deine Leute, ihr macht gar nichts – ihr wartet! Heute ist Freitag, da erreiche ich niemanden mehr“, sprach er mehr zu sich selbst, aber gleich am Montag muss ich alle maßgebenden Personen, auch den Chef, informieren. Der wird schön toben … egal, es ist, wie es ist. Das nächste Maßnahme wird sein, dass die Wirtschaftspolizei beim Münzamt auftaucht, aber du kannst dem Hofrat jetzt schon sagen, dass er sich deswegen keine Sorgen zu machen braucht. Den Stein wird unser Mann vom Bezirk informieren, beziehungsweise wird der ihm sagen, was er bei der Wirtschaftspolizei auszusagen hat. Sobald ich das genaue Prozedere und die Daten von meinem Draht beim Innenministerium weiß, gebe ich sie dir bekannt.“
„Ja, dann … warten wir eben“, sagte das Mondgesicht, hob beide Schultern und ließ sie wieder fallen.